Heimat
Liebster Alex,
seit unserem letzten Brief ist sehr viel Zeit vergangen. Viel zu viel Zeit. Wir haben und von unseren Projekten und dem Leben an sich zu sehr einbinden lassen. Aber seit Tagen habe ich ein großes Verlangen Dir zu schreiben. Meine Gedanken jemanden mitzuteilen scheint mir in diesem Moment sehr wichtig.
Ohne Umschweife komme ich gleich zur Sache. Ich war vor ein paar Tagen im Haus für Geschichte. Dieses Museum in Bonn befasst sich unter anderem mit der deutschen Geschichte ab 1945. Die Ausstellung „Heimat. Eine Suche“ wollte ich mir anschauen. Neugierig und voller Erwartung betrat ich die Ausstellung. Wie du dich erinnerst, haben wir schon zuvor von Heimat gesprochen. Wir wollten sogar gemeinsam nach Polen reisen, um meine alte Heimat zu finden. Ich dachte, dass mir die Bonner Ausstellung ein wenig helfen würde, mich zu erinnern, meine Heimat bewusster zu vermissen, sie zu erkennen, sie wertzuschätzen, endlich diese Unruhe loszuwerden, die mir sagt, dass ich doch eine Heimat, eine Ursprung brauche, aber wie so oft kam alles ganz anders.
Die Kuckucksuhren und die Karnevalsantiquitäten lies ich links liegen, mich begeisterte es wenig, diese Artefakte zu betrachten. Brauchtum. Natürlich überlegte ich sofort welches Brauchtum für mich wichtig gewesen ist. Mir fiel da nur Weihnachten ein. Meine Eltern haben am Heiligen Abend immer einen Teller mehr gedeckt, falls noch jemand unerwartetes vorbeikommen sollte. Ist das Brauchtum oder nur Familientradition. Meine Eltern kann ich nicht mehr fragen. Keine Familie….keine Heimat? Ansonsten fallen mir nur kirchlich belastete Brauchtümer ein oder „prima aprils“, den ersten April in Polen. Aber nichts, womit ich mich wirklich identifizieren kann.
Das ist es nicht, mein Unmut wächst. Es gibt Videoinstallationen. Menschen erzählen von ihrem Begriff von Heimat. Ich denke: „Das ist doch nur für Menschen, die eine Heimat haben interessant. Das ist Voyeurismus. Da können sich die Biowestdeutschen ein Bild von Heimatlosigkeit machen. Vom Schmerz der Migranten und Vertriebenen, die immer auf der Suche sind nach der neuen Heimat oder dem Schmerz von Verlust.“ Aufgewühlt gehe ich weiter.
Ein Teil der Ausstellung befasst sich mit der Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Nun, ich bin persönlich der Meinung, dass es recht war, alle Deutschen wegzuschicken. Natürlich konnte der einzelne Ostdeutsche nichts für den Angriffskrieg Hitlers, aber …ist egal…also nicht egal, aber nicht der Punkt meines Briefes.
Meine Eltern blieben in Polen. Ein Teil der jeweiligen Familien, alle älteren Geschwister, zog nach Westen. Sie zogen mit den Tracks. Meine Eltern blieben mit ihren Eltern in Polen. Oberschlesien. Sie sprachen, als sie noch lebten nie darüber. Jetzt kann ich sie über das Wie und Warum nicht mehr fragen.
Meine Mutter und mein Vater haben beide noch die Grundschule in deutscher Sprache besuchen können. Danach kam das Ende des Dritten Reiches, zum Glück der Menschheit, zum Leid des Einzelnen. Sie haben mir nie erzählt, ob sie je eine polnische Schule besucht haben. Mein Vater war Meister für Elektrotechnik im Bergbau. Meine Mutter war Glasbläserin. Irgendwie ging dann doch alles. Nur dieser Ausreiseantrag für die BRD hat alles zur Nichte gemacht, oder alles gerettet.
Deutschstämmige, die einen Ausreiseantrag gestellt hatten, mussten mit Repressalien in Polen rechnen. Darüber werde ich vielleicht ein anderes Mal Schreiben. Das ist jetzt nicht wichtig. Meine Eltern haben 11 Jahre auf ihre Ausreise in die BRD gewartet.
Mein Vater war 43 und meine Mutter 35 als wir in die BRD kamen.
Sie haben 11 Jahre lang versucht Gleiwitz nicht als ihre Heimat zu sehen. Kannst Du Dir das vorstellen? Immer auf dem Sprung zu sein? Soweit ich mich erinnern kann, hatten meine Eltern keine Freunde in Polen. Keinerlei Bindung zur Stadt oder Land. Sie lebten mit der Hoffnung auf eine Rückkehr. So nannte sie es. ABER WOHIN? Sie waren doch nie zuvor in der BRD. Niemand wartete in Westdeutschland auf Sie. Die Verwandtschaft müde vom Päckchen schicken, gesetzt in Einfamilienhäusern, etabliert in Westdeutschland. Zu viel Zeit war vergangen. Die Familie war sich fremd. Da waren Sie, die Spätaussiedler, in Polen die „Niemiecki“, in Deutschland die „Polacken“.
Es geht nicht darum eine Heimat gehabt zu haben, es geht darum eine Heimat zu haben und sie zu lieben und gestalten zu können.
Das wäre mein letzter euphorischer Aufruf gewesen aber so einfach ist das nicht.
Meine Eltern waren nicht unglücklich. Unsere Familie überschattete jedoch eine grundsätzliche Traurigkeit. Die Heimatlosigkeit, die meine Eltern erfahren mussten, hat sich tief in mir verankert. Die Traurigkeit, die ich empfinde betrifft in erster Linie meine Eltern, sie haben so viel ertragen. Wenn ich Fotos von Menschen mit Koffern oder heute mit Plastiktaschen sehe, die Ihre Heimat verlassen müssen, dann muss ich einfach weinen, weil diese Schicksale zumeist trauriger sind als meine. Das habe ich auch in der Ausstellung gemacht. Ich stand da und Tränen liefen völlig unkontrolliert aus meine Augen. Ich war sehr froh über dem achtsamen MuseumswärterInnen. Vielleicht war ich ja nicht die erste.
Meine Eltern hatten keine Heimat, ich habe keine Heimat, aber meine Kinder werden eine Heimat haben. Das ist ein Lichtblick. Viele andere Menschen verlieren gerade eben ihre Heimat, während wir darüber sprechen, ob wir im Winter genug Gas haben werden. Es liegt an uns, ob sie hier eine neue Heimat finden. Wenn wir heimatlosen die Möglichkeit geben Teil unserer Heimat zu werden, sie teilhaben zu lassen an guten, wie auch schlechten Dingen. Die Verantwortung mit Ihnen teilen, sie ihre neue Heimat mitgestalten lassen, dann werden sie sie am Ende auch lieben.
Deine Beate
P.S. Ich denk an Dich